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Entspannung erlernen

Es gibt eine Unmenge an Methoden und Übungen, um Entspannungsfähigkeit zu trainieren. Viele davon können sinnvoll eingesetzt werden. Leider wird häufig auf ein paar grundlegende Überlegungen vergessen, die uns beim Lernen aller Fähigkeiten helfen.

 

Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem progressiven Aufbau von Entspannungsübungen. Die hier dargestellten Ideen sind für viele der bekannten Übungen umsetzbar und bieten auch Einsichten in Lernstrategien für andere mentale Fähigkeiten.

 

Wie gehe ich mit Entspannungsmethoden um?

Entspannungsmethoden sind dazu da, um Entspannungsfähigkeit zu erlernen. Am Anfang steht das Erfahren des Zustandes von Entspannung. Entspannung ist uns nicht in die Wiege gelegt. Wer es nicht geübt hat, hat möglicherweise noch nie eine tiefere Ebene von Entspannung erlebt.

 

Für Peter Camenzid, in Hermann Hesse‘s gleichnamigen Roman, bestand die Welt aus einem kleinen Alpendorf. Trotz großer Neugierde und Wissensdurst lies es sich in frühen Jahren dort gut aushalten, denn er wusste nicht, was er nicht wusste. Erst als er als Kind das erste Mal bei klarer Sicht auf dem höchsten Gipfel gestiegen war eröffnete sich für Ihn die Weite der Welt, die er bereisen wollte.

Wer sich noch keiner Entspannungsübung hingegeben hat, kennt wahrscheinlich den Zustand von echter Entspannung nicht.

 

Manchmal haben mir schon Klient*innen erklärt, dass Entspannungstechniken nichts für sie sind, da sie sich dabei nicht entspannen können. Die Schlussfolgerung ist aus individueller Sicht verständlich. Nur ungern gibt man sich etwas hin, was man nicht beherrscht. Gut, dass zumeist Kinder anders vorgehen. Ansonsten würde Schule schon am ersten Tag scheitern. Man stelle sich eine Sechsjährige vor, die darauf besteht, dass lesen nichts für sie ist, da sie es nicht kann.

Entspannungsfähigkeit ist, wie viele andere Dinge im Leben, bis zu einem gewissen Grad erlernbar. Neues zu lernen, sowie das Bewusstsein lernfähig zu sein (Schlagwort: Growth Mindset), sind in vielen Fällen an sich schon lustvolle und stärkende Ressourcen.

 

Integriere gelerntes in den Alltag

Wenn wir explizit lernen (vor allem wenn wir belehrt werden) starten wir oft mit dem Abstrakten und kommen dann zum Konkreten und Spezifischen. Ein Vorgehen, das in seiner Effektivität kritisiert werden kann.

Wir lernen das Alphabet bevor wir Sätze lesen. Wir lernen in der Physiotherapie einen Muskel anzusteuern, bevor wir wieder gehen oder laufen. Wir lernen in der Psychotherapie unsere Empfindungen mit Worten zu beschreiben, bevor wir sie beeinflussen oder akzeptieren lernen.

 

Später - und das ist die eigentliche Schwierigkeit – müssen wir den Transfer, die Integration in die Realität schaffen. (Traditionelle Einteilungen des Lernprozesses: Taxonomie von Bloom oder im Bewegungslernen jene von Gentile.) Wir lernen Aufsätze und kreative Geschichten zu schreiben. Wir laufen nicht nur geradeaus, sondern mit einundzwanzig anderen Personen kreuz und quer einem Ball nach. Nichts davon ist uns in die Wiege gelegt und so ist es auch mit der Entspannung.

Die meisten Entspannungsübungen bauen darauf auf, dass du dich in einem ruhigen Setting befindest. Du wirst zu Anfang meist aufgefordert einen stillen Raum aufzusuchen und eine angenehme sitzende oder liegende Position einzunehmen. Bei geführten Entspannungsübungen sind die Stimmen der Sprecher*innen oft zusätzlich ruhig und melodisch. Das kann durchwegs ein sinnvoller Start sein. Es sollte dir jedoch mehr und mehr möglich sein diese neuen Skills auch in ungewöhnlicheren Situationen einzusetzen. Irgendwann könnte es dir dann sogar möglich sein, einen kurzen Moment im Alltag zu nutzen, um etwas mehr Entspannung herbeizuführen. Aber wie kommt man von dieser Gesamterfahrung der Entspannungsübung zur gezielten Anwendung im Alltag?

 

Wir setzen auf eine mehrstufige Progression:

1.)    Halte eine regelmäßige Übungspraxis

2.)    Erschaffe einen Anker

3.)    Setze einen Fokus auf das Ende der Praxis

4.)    Übe in unterschiedlichen Körperlagen und -haltungen

5.)    Übe zu unterschiedlichen Zeitpunkten

6.)    Übe in unterschiedlichen Umgebungen

7.)    Verkürze die Dauer einer Einheit und reduziere die Inhalte auf das Wesentliche

8.)    Nutze leichten Stress um zu üben

 

 

Schritt Nr. 1: Übe regelmäßig

Wenn du keinerlei regelmäßige Erfahrung mit Entspannungsmethoden hast, ist es am Besten den allgemein propagierten Regeln zu folgen. Übe in ruhiger Umgebung, mache es dir so angenehm wie möglich und vor allem, übe möglichst häufig. Lieber öfter und kürzer als selten und lange.

 

Übe in dieser Phase vor allem nicht nur dann, wenn du aufgeregt und unruhig bist, sondern vor allem dann, wenn es dir gut geht! Erst wenn du ein paar Wochen regelmäßiger Praxis hinter dir hast, nimm dir die nächsten Schritte in dieser Liste vor. Wenn du bis hierher gelesen hast, dann ist es an der Zeit zur Tat zu schreiten. Probiere eine Entspannungstechnik aus. Wähle eine die du kennst oder probiere etwas Neues. Nimm dir ein paar Tage Zeit, um zu experimentieren und für dich herauszufinden was dir gut tut. Einen Artikel wie diesen zu lesen ist nur dann von Bedeutung, wenn es dein Handeln beeinflusst.

 

Die Klassiker:

  • Progressive Muskelrelaxation nach Jakobson
  • Die Grundstufe des Autogenen Trainings

Für Experimentierfreudige:

  • Atemübungen, wie die Quadratatmung
  • Trauma Release Exercise
  • Katsugen undo
  • Yoga Nidra

 

Die weiteren Schritte eigenen sich für jene Personen, die tiefer in Entspannungsübungen eintauchen wollen. Wenn du lediglich ab und an eine geleitete Entspannungsübung durchführen möchtest, brauchst du nicht mehr weiter zu lesen. Es ist nicht notwendig weiter zu gehen.

 

Schritt Nr. 2: Erschaffe einen Anker

Ein Anker ist ein Gegenstand, ein Verhalten, ein Gedanke oder ein Ort, der uns möglichst zuverlässig in einen Reaktion in uns auslöst

Das ist ein Beispiel für einen Anker:

Ok, ein bisschen dramatisch. Gehen wir es kleiner an…

 

Gegenstände als Anker:

Ein Anker kann ein Gegenstand sein, den du bei dir trägst. Dein Mobiltelefon oder dein Ehering eignen sich leider nicht für die Entspannungsübungen, da sie schon mit vielen Situationen und Emotionen in Verbindung bringst. Manche Glaubensrichtungen nutzen kleine Ketten oder Amulette als Erinnerung und Anker. In vielen ostasiatischen Erzählungen tragen die Figuren getrocknete Linsen in der Tasche mit, um sie als Anker zu verwenden.

 

Der eigene Körper als Anker:

Gegenstände als Anker zu verwenden hat den Vorteil, dass sie eine physische Erinnerung bieten. Leider ist das Embodymate Team etwas zerstreut und neigt dazu diese Anker zu verlieren oder nicht mit zu führen. Wenn es dir ähnlich geht, nutze lieber deinen Körper als Anker. Auch kann man wieder die Verknüpfung zur spirituellen Praktiken aus aller Welt erkennen:

Ein Anker für einen gewissen Zustand (Desmond Morris, 1994 S, 193)

Ein anderer Anker für einen anderen Zustand (Desmond Morris, 1994 S. 218)

 

 

Im Yoga werden Mudras, also Handpositionen mit bestimmten geistigen Zuständen verbunden. Jedem Mudra wird eine spezielle Wirkung zugeschrieben. Eine mögliche Erklärung für diese Wirkung ist, dass eine Verbindung zwischen diesem Geisteszustand und der Handposition gelehrt und dann immer wieder geübt wird. Das können wir auch nutzen!

 

Praktisch gedacht kann ein körperlicher Anker eine Haltung oder Bewegung sein. Eine Hand auf dem Bauch oder dem Brustkorb sind geeignete Anker für Entspannung. Der Vorteil davon ist, dass zusätzlich noch eine verstärkte Wahrnehmung des Herzschlages und der Atmung erzielt werden. Das Verbinden der Hände, z.B. wie beim Gebet, ist eine weiter Möglichkeit zur Ankersetzung.

 

Andere Anker

Unabhängig davon kann ein bestimmtes Musikstück, (ein Trick vieler Sportler*innen vor dem Wettkampf) oder theoretisch auch ein Duft eingesetzt werden, um einen sehr starken Anker zu setzen. Ulrich Ott argumentiert in seinem fabelhaften Buch Mediation für Skeptiker gegen die Verwendung von Sensationen im Mund und Nasenbereich, da hier bereits einige Gefühle und Empfindungen verankert sind (Ott, 2010, S.83). Wer kennt nicht den Effekt eines Geruchs aus der Kindheit, der sofort eine Kaskade an Erinnerungen und sogar Stimmungen herbeiruft?

 

Egal was du wählst. Erstelle dir deinen persönlichen Anker, den du am besten immer zur Verfügung hast und baue ihn immer in deine Praxis ein!

 

Das Kreieren eines Ankers ist optional. Er kann sich auch organisch in Schritt 5.) ergeben. Wir halten dich auf jeden Fall dazu an einen Anker erst dann zu integrieren, wenn du bereits eine Praxis hast. Ansonsten kann es passieren, dass du den Anker mit deinem Anfänger*innen-Status und mit möglichen Entspannungseinheiten, die nicht den gewünschten Effekt bringen, verbindest. Vergiss nicht, Entspannung ist eine Übungssache!

 

 

Schritt Nr. 3: Setze den Fokus auf das Ende der Praxis

Ein häufiger Fehler ist es, nach einer Entspannungsübung einfach aufzustehen und die Praxis hinter sich zu lassen. Damit ist nicht gemeint, dass du nach der Einheit noch lange nachruhen oder dir Panflötenmusik anhören sollst ;-). Ganz im Gegenteil geht es hier um das Wiedereintauchen in den Alltag. Gelingt es dir, aufzustehen und den Zustand der Entspannung aufrecht zu behalten? Gelingt es dir, dich an die Arbeit zu setzen und diesen Zustand aufrecht zu erhalten? Dazu ist es vorher wichtig, dass dir klar ist, was Entspannung für dich persönlich bedeutet.

Was nimmst du während deiner Praxis wahr? Was sind die körperlichen Marker, die dir sagen, dass du im richtigen Zustand bist? Ist es eine Sensation in einem bestimmten Bereich deines Körpers? Nimm diesen Marker als deinen Wiedererhebungs-Parameter mit, um zu erkennen wo du gerade bist.

 

 

Schritt Nr. 4: Übe in unterschiedlichen Körperlagen und -haltungen

Manche Entspannungsübungen setzen eine gewisse Körperhaltung voraus. Autogenes Training oder Progressive Muskelrelaxation sind sehr leicht anzupassen. Anstatt im Liegen, kannst du sie in verschiedenen Sitzpositionen oder sogar im Stehen üben. Atemübungen, wie die Quadratatmung, sind sogar recht einfach ins Gehen integrierbar.

 

 

Schritt Nr. 5: Übe zu unterschiedlichen Zeitpunkten

Wenn du vorgegangen bist wie oben beschrieben, hast du deine Praxis zu einer Tageszeit aufgebaut, zu der es dir leichtfällt. Irgendwann ist es jedoch notwendig, diesen Rhythmus aufzubrechen. Wenn du davor sehr fixe Routinen oder Gewohnheiten um deine Praxis aufgebaut hast, rechne damit hier nochmal kleinen Herausforderungen entgegenzutreten (lese dazu in Kürze: McHabit – Der Gewohnheiten-Trend)

 

 

Schritt Nr. 6: Übe in unterschiedlichen Umgebungen

Das ist der sicherlich schwierigste Schritt. Transferiere beispielsweise deine Praxis von der Couch in die Küche, von dort in einen öffentlichen Park und schließlich sogar in die U-Bahn. Erst wenn du den Schritt wagst und deine Praxis in unbekanntes Territorium bringst, wirst du es auch einsetzen und integrieren können. Ansonsten bleibt ein Transfer in den Alltag leider häufig eine Illusion (lese dazu in Kürze: Transfer-Effekte: Nicht für die Schule, sondern fürs Leben…)

 

 

Schritt 7: Reduziere die Inhalte auf das Wesentliche

Nun darfst du deine Kreativität einsetzen. Die Idee für diesen Schritt habe ich zu Allererste in Josh Waitzkin’s Buch The Art of Learning aufgefunden und dann mehrmals wiederentdeckt. Anstatt eine mentale Übung länger und intensiver zu machen, argumentiert Waitzkin für eine Verkürzung der Einheiten. Das Ziel ist es den Zustand der Entspannung auf Knopfdruck zu erzeugen. Dazu solltest du dich fragen, was der für dich effektivste Part der Übung und welche Teile eher redundant sind. Wann spürst du am ehesten den Effekt der Übung? Arbeite die effektiven Teile heraus und was du nicht benötigst. Dazu ist es nötig etwas mit den Effekten zu experimentieren. Wenn du die richtige Konstellation gefunden hast bleibt deine Praxis überaus effektiv.

 

 

Schritt Nr. 8: Nutze Stress, um zu üben

Die antiken Stoiker waren wohl Meister darin, scheinbar negative Ereignisse zu begrüßen. (Zumindest lassen sie uns das in ihren Schriften glauben.) Stressige Situationen sind Möglichkeiten unsere Fähigkeiten zu trainieren! Inflationäre Schlagwörter dafür sind wohl Resilienz (Psychologie), Hormesis (Biologie) oder Anti-Fragilität (Querdenker 😉).

Kleine Unannehmlichkeiten, negative Emotionen und einen angespannten Körper frühzeitig wahrzunehmen sind Voraussetzungen, um diesen Schritt zu nutzen.

Die Küche ist wieder in einem katastrophalen Zustand? Eine ausgezeichnete Gelegenheit, um deine Entspannungsfähigkeit zu üben.

 

 

Zusammengefasst:

Entspannungsmethoden sind dazu da, um Entspannungsfähigkeit zu erlernen. Am Anfang steht das Erfahren des Zustandes von Entspannung.

Dieser Zustand kann dann willentlich reproduziert und kultiviert werden.

 

Um die neu erlernte Fähigkeit in den Alltag zu integrieren, ist es notwendig den Transfer direkt zu üben. Dazu können dir unsere 8 Schritte helfen:

  1. Halte eine regelmäßige Übungspraxis
  2. Erschaffe einen Anker
  3. Setze einen Fokus auf das Ende der Praxis
  4. Übe in unterschiedlichen Körperlagen und -haltungen
  5. Übe zu unterschiedlichen Zeitpunkten
  6. Übe in unterschiedlichen Umgebungen
  7. Verkürze die Dauer einer Einheit und reduziere die Inhalte auf das Wesentliche
  8. Nutze Stress um zu üben

Abschließend soll gesagt werden, dass es nicht unsere Absicht ist die wunderbare Erfahrung von Entspannungsübungen zu verkomplizieren. Wenn du unregelmäßig oder lediglich bei Bedarf eine geleitete Entspannungsübung machst, dann ist das eine sehr gute Sache. Die Vorschläge in diesem Artikel dienen der Vertiefung der Praxis. Wir glauben, dass ein tieferer Zustand von Entspannung eine Voraussetzung für viele weitere mentale und physische Erfahrungen ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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