Autor: Peter Raidl
Beweglichkeitstraining wurde vor einigen Jahren zu einem Trendthema in der Fitness-Szene. Auch Sportler*innen setzen verstärkt auf Mobility. Gleichzeitig ist nicht ganz klar, was Mobility eigentlich bedeutet (siehe dazu diesen Post).
Die Sinnhaftigkeit von Beweglichkeitstraining wird jedoch immer wieder in Frage gestellt. Zurecht propagieren manche Autor*innen, Beweglichkeitstraining und Stretching aus den allgemeinen Trainings-Guidelines herauszunehmen (aktuell hier: Nuzzo 2020). Argumentiert wird, dass die allgemeinen gesundheitlichen Effekte sind recht gering sind. Auch als Zubringerleistung in den meisten Sportarten kann Beweglichkeit klar dem Krafttraining als unterlegen angesehen werden. Dass chronisches Dehnen schädlich für Leistungsfähigkeit oder Schmerzverhalten ist, kann jedoch im Allgemeinen so nicht behauptet werden (Baxter et al. 2017; Medeiros und Lima 2017).
Wer beweglicher werden möchte, kann sich diesem Ziel getrost widmen und sich einer der duzenden Beweglichkeitsmethoden verschreiben. Im Leistungssport sind natürlich individuelle und an die Sportart angepasste Lösungen zu suchen.
Immer wieder betonen wir in unserer Arbeit, dass verschiedene Beweglichkeitsmethoden tendenziell unterschiedliche Effekte im Organismus auslösen (Freitas et al. 2018; Konrad et al. 2017). Als Anfänger*in oder Nicht-Leistungssportler*in kann ich mir jedoch meist leisten, meinen persönlichen Vorlieben oder den Trends zu folgen. Wer regelmäßig versucht, seine maximale Beweglichkeit im Körper auszunützen, wird beweglicher werden. Fortgeschrittene sollten sich spezifischen Beweglichkeitsmethoden für spezifische Anwendungen suchen.
Eine der in den letzten Jahren eher verdrängte Methode ist das passiv-statische Dehnen. Es wurde angenommen, dass passiv-statisches Dehnen die Leistungsfähigkeit der Muskulatur reduziert. Dieser kurzfristige Effekt, also direkt nach dem passiv-statischen Dehnen, wurde mehrfach bestätigt (Simic et al. 2013; McGowan et al. 2015; Kallerud und Gleeson 2013).
Die praktische Relevanz dieses gefürchteten Effektes ist aber fraglich, weil er a) sehr klein ist, b) tendenziell bei Langzeitdehnungen ab ca. 60s auftritt und c) nach einem allgemeinen Warm-up wieder verschwindet. Trotzdem wird passiv-statisches Dehnen im Athletiktraining und Fitnesstraining weiterhin abgelehnt. Auch mit der Begründung, dass andere Methoden – zumindest was den theoretischen Wirkungsmechanismus angeht – effektiver sein könnten oder eben überhaupt andere Effekte auslösen könnten. Diese Argumente sind durchwegs auf guten physiologischen Grundgerüsten aufgebaut und sollten trotz ungenügender hochwertiger Evidenz nicht leichtfertig abgetan werden (absence of evidence is not evidence of absence).
Auch wir verwenden – wenn es uns als sinnvoll erscheint – Kontraktionsdehnungen, Loaded Stretching, Dynamische Beweglichkeitsübungen oder Ballistisches Dehnen. Trotzdem bleibt passiv-statisches Dehnen in unserem Werkzeugkoffer – Warum?
1.) Simple AND Easy
Passiv-statisches Dehnen ist eine einfache Methode. Alle anderen uns bekannten Beweglichkeitsmethoden benötigen mehr Erklärung und sind schwieriger eigenständig durchzuführen. Uns ist es wichtig, Menschen zur eigenständigen Bewegung zu ermächtigen. Gerade Menschen, die wenig positive Assoziationen mit Bewegung und Training haben, dürfen nicht von komplizierten Übungen, die sich teilweise auch noch schmerzhaft und unangenehm anfühlen, weiter ausgebremst werden. Passiv-statisches Dehnen fühlt sich zumeist gut an und die Übung kann klar im Zielbereich lokalisiert werden. Sie ist damit selbst von der übenden Person eigenständig korrigierbar und umsetzbar.
2.) Sicher
Fast alle derzeit gängigen Fitnessübungen und Körperarbeiten können als recht sicher angesehen werden und selbst dynamische Sportarten und hochintensives Training haben ein geringes Risiko an Verletzungen (Bianchi et al. 2020; Geneen et al. 2017; Keogh und Winwood 2017; Klimek et al. 2018).Training ist (fast) immer gesünder und „sicherer“ als KEIN Training.
Passiv-statisches Dehnen stellt unter den Beweglichkeitsmethoden die sicherste dar. Auch bei schlechter Ausführung können wir davon ausgehen, dass unsere Coachees keine Verletzungen erleiden, bis wir sie wieder betreuen und die Technik verbessern.
3.) Körperwahrnehmung:
Der Fokus während einer Übung und Bewegung kann im Allgemeinen nach innen oder nach außen gerichtet sein. Dass dieser Fokus einen teilweise immensen Einfluss auf die Wirkung der Übung macht, kann als gesichert angesehen werden (Ein eigener Artikel dazu ist in Arbeit). Zusammengefasst bedeutet das:
Ein externer Fokus („Das Runde muss ins Eckige“ – Sepp Herberger) funktioniert für sportliche Leistungen und auch für Bewegungslernen fast immer besser.
Ein interner Fokus („Not many people understand what a pump is. It must be experienced to be understood. It is the greatest feeling that I get.“ – A. Schwarzenegger) funktioniert beispielsweise besser für Muskelaufbautraining.
Auch passiv-statisches Training gibt uns eine Chance, die Wahrnehmung auf den Körper nach innen zu richten. Das beinhaltet das Erfahren von Körpergrenzen und das Aufbauen eines intuitiven Verständnisses für die Funktionen des Körpers. In nur wenigen Minuten kann einer Person erfahrbar gemacht werden, wie verbunden und zusammengehörig der eigene Körper ist. Durch feine Veränderungen an der Beckenposition kann beispielsweise ein anderes Dehngefühl in der Wade entstehen oder wieder minimiert werden.
4.) Konzentration und Achtsamkeit
Passiv-statische Dehnungen sind offensichtlich nur mit wenig Bewegung verbunden und auch die Zielsetzung bzw. der körperliche Wirkbereich sind eingeschränkt und klar definiert. Durch diese Eingrenzung und Limitierung ist es einfacher, jede Nuance an Veränderung klar wahrzunehmen und dem Geist einen Anker zu geben, an dem er sich festhalten kann. Ein ähnliches Prinzip steckt hinter Konzentrations-Meditationen. Beim Dehnen haben wir jedoch den Vorteil, dass wir nicht nur mit dem Geist arbeiten müssen. Der Körper ist uns im Alltag als Ausgangspunkt unserer Konzentration viel näher und vertrauter. Er bietet sich damit als Anker für Konzentrations- und auch Achtsamkeitsmeditationen anfangs meist besser an.
5.) Verbindung von Körper und Geist
Auch die Verknüpfungen mit dem Geisteszustand, mit Entspannung und mit der Atmung werden ganz einfach erfahrbar gemacht. Unserer Erfahrung nach kann jede übende Person recht schnell die Wirkung gezeigt werden, die der Atemrhythmus und die Atemfrequenz auf die Tiefe einer Dehnung haben.
Direkt verbunden mit der Dehnfähigkeit und der Atmung ist außerdem die Entspannung, nicht nur als nicht-beeinflussbare Störgröße, sondern als ganz klar erlebbare und kontrollierbare Fähigkeit. Die Wechselwirkungen zwischen Kognition, Emotion und dem Körper wird so (unter richtiger Coaching-Begleitung) zu einem erstaunlichen und nützlichen Faktum.
Zusammenfassung:
Passiv-statisches Dehnen ist eine sichere und einfach zu erlernende Körperübung. Sie fühlt sich für viele Menschen akut gut an und kann darum leicht in ein erstes Übungsprogramm eingebaut werden. Richtig gecoachtes Dehnen bietet außerdem die Möglichkeit, eine sehr achtsame und entspannte Bewegungspraxis zu sein.
Sie kann die Wahrnehmung des Körpers verbessern und erzeugt in den Übenden ein Gefühl einer Körper-Geist Einheit, die auch noch unter der eigenen Kontrolle steht. Richtig angeleitetes Dehnen ist ein hilfreiches Werkzeug innerhalb eines bio-psycho-sozialen Gesundheitsansatzes.
Literaturverzeichnis
- Baxter, Claire; Mc Naughton, Lars R.; Sparks, Andy; Norton, Lynda; Bentley, David (2017): Impact of stretching on the performance and injury risk of long-distance runners. In: Research in sports medicine (Print) 25 (1), S. 78–90. DOI: 10.1080/15438627.2016.1258640.
- Bianchi, Francesco P.; Labbate, Marco; Castellana, Marco; Stefanizzi, Pasquale; Nitto, Sara de; Notarnicola, Angela; Tafuri, Silvio (2020): Epidemiology of injuries among amateur athletes who attended fitness activities: the role of the qualification of the trainer. In: The Journal of sports medicine and physical fitness 60 (3), S. 422–427. DOI: 10.23736/S0022-4707.19.10068-0.
- Freitas, S. R.; Mendes, B.; Le Sant, G.; Andrade, R. J.; Nordez, A.; Milanovic, Z. (2018): Can chronic stretching change the muscle-tendon mechanical properties? A review. In: Scandinavian journal of medicine & science in sports 28 (3), S. 794–806. DOI: 10.1111/sms.12957.
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- Kallerud, Heidi; Gleeson, Nigel (2013): Effects of stretching on performances involving stretch-shortening cycles. In: Sports medicine (Auckland, N.Z.) 43 (8), S. 733–750. DOI: 10.1007/s40279-013-0053-x.
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- Klimek, Chelsey; Ashbeck, Christopher; Brook, Alexander J.; Durall, Chris (2018): Are Injuries More Common With CrossFit Training Than Other Forms of Exercise? In: Journal of sport rehabilitation 27 (3), S. 295–299. DOI: 10.1123/jsr.2016-0040.
- Konrad, A.; Stafilidis, S.; Tilp, M. (2017): Effects of acute static, ballistic, and PNF stretching exercise on the muscle and tendon tissue properties. In: Scandinavian journal of medicine & science in sports 27 (10), S. 1070–1080. DOI: 10.1111/sms.12725.
- McGowan, Courtney J.; Pyne, David B.; Thompson, Kevin G.; Rattray, Ben (2015): Warm-Up Strategies for Sport and Exercise: Mechanisms and Applications. In: Sports medicine (Auckland, N.Z.) 45 (11), S. 1523–1546. DOI: 10.1007/s40279-015-0376-x.
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- Nuzzo, James L. (2020): The Case for Retiring Flexibility as a Major Component of Physical Fitness. In: Sports medicine (Auckland, N.Z.) 50 (5), S. 853–870. DOI: 10.1007/s40279-019-01248-w.
- Simic, L.; Sarabon, N.; Markovic, G. (2013): Does pre-exercise static stretching inhibit maximal muscular performance? A meta-analytical review. In: Scandinavian journal of medicine & science in sports 23 (2), S. 131–148. DOI: 10.1111/j.1600-0838.2012.01444.x.
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